Moderne Begriffsverirrung und Marketingsprache: »autonomes Fahren«

Um uns die Welt verständlich zu machen, bedienen wir uns der Sprache – genauer: einer Parallelwelt geprägt von Worten und Begriffen. Dabei unterliegen sowohl Begriffe als auch unser aus deren Verwendung geformte Ausdruck einem fortwährenden Wandel. Während ein Begriff wie »Scherflein« zur Zeit Martin Luthers (15. Jahrhundert) leicht verständlich war, so ist er dies heute nicht mehr für alle Menschen (weshalb das »Scherflein« aber noch lange nicht durch den »Cent« ersetzt werden muss). Sprache bildet sich aus Begriffen – inhaltlich begreifbaren Worten. Bei deren Auswahl gilt es, stets das konkrete dem abstrakten vorzuziehen und im Ausdruck den treffenden und leicht verständlichen dem Schwergewicht.

Doch gerade heute – in einer durch die Digitalisierung und damit einhergehend durch die Schriftsprache geprägten Welt – scheint Sprache zunehmend begriffsarm und ausdrucksleer zu werden. Sprache wird vulgarisiert und es wird von vielen schlichtweg nachgeplappert, was andere reden oder schreiben – unabhängig von sprachlicher Korrektheit; denn wer hat überhaupt noch Zeit, Energie und Kenntnis, um diese zu hinterfragen. Und das Entscheidungskriterium für die Wahl des geeigneten Ausdrucks ist nunmehr der »Weg des geringsten Aufwands« im eigenen (Nach-)Denken. Von sprachlicher Brillanz ist man dabei schon lange abgerückt. Nicht anders lässt sich erklären, dass selbst gebildete Menschen ein entschiedenes »macht Sinn« als Replik auf einen guten Vorschlag retournieren. Denn würden sie auch nur eine Millisekunde über diesen Ausdruck nachdenken, so kämen sie (hoffentlich) zu der (Selbst-)Erkenntnis, dass eben dieser Ausdruck nur ein misslungener Übersetzungsversuch des englischen »it makes sense« ist. Und es kann weder im Deutschen noch im Englischen sinnvoll sein, einen »Sinn machen« zu wollen; denn Sinn kann sich aus etwas ergeben, dass sinnvoll ist – oder scheint. Und alles andere ist: Unsinn(-ig).

„Autonomes Fahren“:
Wie sich Marketingsprache immer mehr von der Realität entfernt

So liegt die Gefahr in der Verwendung von Wörtern darin, dass nicht mehr klar ist, was wirklich gemeint ist. Nicht mehr Verständlichkeit, sondern Lieblosigkeit und Aufplustern mit hochtrabenden Worten oder Konzepten – ganz im Sinn modernen Marketings – ist en vogue. Ein Beispiel gefällig? Es lässt sich wohl nicht anders erklären, warum allerorten gegenwärtig vom »autonomen Fahren« oder »autonomen Fahrzeugen« die Rede ist. Denn im Grunde sollte sich doch jeder darüber im Klaren sein, dass es mindestens mittelfristig lediglich »selbstfahrende Fahrzeuge« geben wird – keine autonomen. Doch »autonom« klingt viel besser als »selbstfahrend« – es klingt moderner, neuer oder gar faszinierend. Nur ist es bis zu einer wirklich autonomen Verkehersteilhabe von Fahrzeugen noch ein (sehr) weiter Weg. Doch vielen scheint weder der Zusammenhang noch die Abgrenzung zwischen beiden Begriffen klar zu sein; Mangel und Jammer zugleich.

Denn mit Blick auf die Moderne und damit auch die Digitalisierung kommen wir mit sprachlich trefflicher Ausdrucksweise kaum mehr aus; Superlative und »Denglisch« prägen unsere Begriffswelten. Ferner steht jede Technologie auch vor der Herausforderung, dass es kaum passende Begriffe gibt, die sie beschreiben. Und da ist autonomes Fahren sicher noch ein harmloses Beispiel. So bedient man sich oftmals bei Vokabeln etablierter Systeme: Mobil-Telefon, Daten-Bank oder Such-Maschine. Doch: Was hat es denn nun mit einem autonomen Fahrzeug in Abgrenzung zu einem selbstfahrenden Fahrzeug auf sich?

Der Fahrzeughersteller TESLA Inc. hat es in den Köpfen vieler Menschen heute geschafft, die von ihm in Fahrzeuge integrierten Systeme als »autonomes Fahren« zu etablieren. So gilt ein TESLA der sich – ohne Zutun des Fahrers – selbstständig auf der Autobahn bewegt, die Spur wechselt, bremst oder beschleunigt, für viele als autonomes Fahrzeug. Doch: Dem ist mitnichten so! Denn auch ein TESLA hat immer noch die autotypischen Bedienelemente – Lenkrad, Pedale zum Bremsen oder Beschleunigen – und lässt im »Ernstfall« gerne auch den Fahrer »ran«. Autonom zu sein bedeutet aber, dass ein Fahrzeug unabhängig und damit eigenständig agiert. Und so verstanden verwundert es wohl kaum mehr, dass die einem Fahrer von TESLA zur Verfügung gestellte Unterstützung in einer SAE-Einstufung als »teilweise« bis »bedingte« Automatisierung (Stufe 2 bis 3) einzuordnen ist. Die »SAE International«, der internationale Ingenieursverband, hat hierzu einen Standard entwickelt, der insgesamt fünf Stufen in der Automatisierung von Fahrzeugen unterscheidet – wobei tatsächlich autonome Fahrzeuge einer noch imaginären Stufe sechs angehören müssten. Die Einstufung nach dieser SAE-Vorgabe hat sich mittlerweile unter den Fahrzeugherstellern durchgesetzt.

TESLA selbst liefert in seinen Fahrzeugen erst seit Oktober 2016 eine neue Hardware aus, die nach Angaben des Herstellers theoretisch eine Unterstützung bis zur Stufe fünf (volle Automation) der SEA unterstützen soll. Doch diese Technik arbeitet zurzeit noch in einem »Schattenmodus« und wird nur dazu verwendet, kontinuierlich notwendige Daten an TESLA zu senden. Denn: Gerade die Entscheidungen technischer Systeme basieren auf Erfahrungen – und diese lassen sich am Einfachsten durch Beobachten von Realsituationen gewinnen. Somit liegt bis zum autonomen Fahren noch eine Wegstrecke vor Herstellern und Autofahrern.

Sprachlich haben viele, wie gesehen, die Hürde zum selbstfahrenden Fahrzeug bereits übersprungen und sind schon beim autonomen Fahrzeug gelandet. Doch inhaltlich, sind wir selbst von einem wirklich funktionierenden selbstfahrenden Auto noch weit entfernt – denn neben einigen noch zu klärenden technischen Details, woran sich Hersteller wie TESLA bereits eifrig versuchen, gibt es vielmehr noch andere Herausforderungen auf dem Weg zum autonomen Fahrzeug zu meistern. Die kompliziertesten Etappen kommen erst noch. So wäre es bei einer Fahrt vom Land in die nächstgelegene Stadt möglich, das ökostrombetriebene autonome Auto »leer« wieder nach Hause fahren zu lassen (und sich später von diesem wieder abholen zu lassen) statt teure Parkgebühren zu bezahlen. Dies würde sowohl raumplanerisch (was geschieht mit bisherigem Parkraum) als auch verkehrsplanerisch (welche Verkehrsflüsse und -mengen sind erwartbar) neue Herausforderungen mit sich bringen. Ebenso sind Haftungsfragen noch ungeklärt: Inwiefern haftet ein unbedarfter Fahrzeugbediener für schlecht programmierte Fahrzeug-Software – oder wer ist verantwortlich, wenn ein autonomes Fahrzeug alleine unterwegs ist? Eltern haften für ihre Kinder – und Benutzer für die Software ihrer Fahrzeuge? Auch ethische Fragen sind ungeklärt. Das vielzitierte Kind, welches hinter einem geparkten Auto hervorspringt und somit die Entscheidung notwendig macht: a) Kind überfahren, b) in den Gegenverkehr steuern und einen Frontalcrash provozieren oder c) in ein parkendes Auto fahren? Und wenn hier die Entscheidung noch recht einfach scheint: Wie ändert sich diese, wenn es sich nicht um ein Kind, sondern um einen 94-jährigen Fußgänger handelt, der trotz roter Fußgängerampel eine Straße überquert? Und wofür werden noch Kfz-Versicherungen notwendig sein, wenn Unfälle zwischen selbst-agierenden-technischen Systemen »ausgehandelt« werden – möglicherweise entschieden anhand eines Millisekunden vorher prognostizierten Schadensumfangs. Skeptiker gehen schließlich davon aus, dass erst Ende der 2020er Jahre tatsächlich autonome Fahrzeuge unsere Verkehrswelt – insbesondere in (Groß-)Städten – erobern können.

Doch: Kommen wir zurück zum Beginn; es ist auch – oder gerade – in einer digitalisierten Umwelt wichtig, dass wir unsere Welt in ihrer Vielgestaltigkeit wahrnehmen und die begriffliche Einordnung nicht künstlich verkürzen oder durch ein vorschnelles »anheften« von scheinbar passenden Etiketten energiesparend diskutieren. So ist es beispielsweise gut, richtig und auch wichtig, dass ein Unterschied zwischen autonomen und selbstfahrenden Autos besteht. Dass ein von Assistenzsystemen unterstützter Fahrer somit immer noch ein Verantwortungsträger bleibt und nicht – durch die Begriffe verschleiert – zum Spielball der um ihn herum agierenden Autopiloten wird, wie es bei den jüngsten Medienberichten über Unfälle mit teilautomatisierten Fahrzeugen schien.

Somit ist es angebracht, eine Lanze für die Aufrechterhaltung eines solchen Bedeutungsunterschieds – auch in Zukunft und auch dann, wenn dieser Mühe und Aufwand macht – zu brechen. Doch: Dieser Wunsch bedeutet, mutig zu sein und sich sowohl dem »mainstream« entgegenzustellen, als auch den Aufwand einer differenzierten Äußerung auf sich zu nehmen. Mit Blick auf Fahrzeuge scheint die Differenzierung von »autonom« und »selbstfahrend« noch trivial – und möglicherweise sogar künstlich. Doch: Der Drang nach Vereinfachung, Verkürzung und marketinglastiger Überhöhung nicht vorhandener Inhalte lässt sich hier im Kleinen erkennen. Angesichts aller populistischer Äußerungen der Politik sowie anderer Lebensbereiche ist eine Sensibilisierung mehr notwendig denn je. Aber: Dazu braucht es 1) nachdenken, 2) Wissen und 3) den Mut sich zu äußern. Also: Bleiben wir sensibel für die »richtigen« Worte und prüfen wir mutig das, was wir sagen – oder gesagt bekommen.

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