Digitalisierung und Führung:
“Antifragilität” fördern

Die Herausforderungen, die die Digitalisierung an die Führung von Unternehmen stellt, sind grundsätzlicher Natur. Ein völlig verändertes Kommunikationsverhalten und radikal neue Geschäftsmodelle erfordern von Führungskräften weitaus mehr als die Adaption moderner Technologien. Wer meint, dass etwa ein innovatives Dokumentenmanagement, eine starke Social-Media-Kampagne oder “irgendwas mit Big Data” den Weg in das digitale Zeitalter ebnen werden, richtet den Blick zunächst in die falsche Richtung. Richtiger ist es, vorerst den Blick nicht nach außen, sondern nach innen zu lenken: Die eigenen Prinzipien und Konzepte, etablierte Denkmuster und den eigenen Führungsstil auf den Prüfstand zu stellen. Handlungsfähig zu bleiben, heißt in diesem Sinne, sich an drei fundamentalen Fragestellungen zu orientieren, die hier im Folgenden vorgestellt werden sollen:

Leitfrage #1:
Wie motiviere ich meine Mitarbeiter im digitalen Zeitalter?

Motivation – Engagement

Führung in Zeiten der Digitalisierung heißt auch, dass Mitarbeiter zunehmend mobil sind. Sie arbeiten nicht unbedingt am Standpunkt ihres Unternehmens und sie stehen zudem ständig “mit einem Bein im Arbeitsmarkt”. Das heißt, sie befinden sich im Austausch mit einer weltweiten Community ihres Fachs und empfinden vermutlich weniger Abhängigkeit, sprich: Loyalität zu ihren Arbeitgebern als es in früheren Zeiten der Fall war. Sie haben als hochqualifizierte Fachkräfte die Wahl zwischen verschiedenen Jobangeboten und die Unternehmen konkurrieren zunehmend um sie. Sie als Angestellte zu Höchstleistungen zu motivieren und sie an ein Unternehmen zu binden, gelingt nunmehr nicht nur mit Hilfe attraktiver Vergütungen und anderer materialistischer Anreize. Angestellte und Mitarbeiter möchten vielmehr verstärkt die Sinnhaftigkeit ihres Tuns im Unternehmen erleben. Dies gelingt durch eine erhöhte Eigenverantwortung, durch Möglichkeiten der Selbstentwicklung und durch konstruktives Feedback von Seiten der Führung. Führungskräfte müssen dementsprechend eigene Entscheidungsbefugnisse beschneiden und Mitbestimmung und grundsätzliche Diskussionen über die Ausrichtung des Unternehmens zulassen.

Leitfrage #2:
Wie schafft die Führung angemessenen Ausgleich?

More than Work-Life-Balance

So hoch in Zeiten der Digitalisierung die Führung eines Unternehmens Werte wie Innovation, Anpassungsfähigkeit und Weiterentwicklung schätzt – sie muss für einen entsprechenden Ausgleich sorgen. Wer von seinen Mitarbeitern ständige Bereitschaft zur Veränderung fordert, muss auf der anderen Seite für Stabilität sorgen. Etwa für eine solide zwischenmenschliche Beziehung, die von Konstanz, Vertrauen und Verlässlichkeit geprägt ist. Eine Führungskraft, die verlangt, dass laufend neue Aufgaben und Prozesse bewältigt werden, dass Mitarbeiter sich stetig weiterbilden, muss im Ausgleich dafür auch Sorge tragen, dass gut bekannte und trainierte Aufgaben weiterhin effizient erledigt werden können. Weitere Beispiele für die Dringlichkeit einer guten Balance sind:

  • Innovation versus Kostenkontrolle
  • Agile Prozesse versus solide Technologie
  • Unternehmensinterne IT versus “private” Anwendungen und Endgeräte

Leitfrage #3:
Wie verhält sich die Führung im Angesicht des “Anderen”?

Digital Leader – Digital Team

Die Digitalisierung und Globalisierung forcieren die Diversität unter den Mitarbeitenden. In Unternehmen treffen Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen aufeinander und sind – auf Grund der Digitalisierung – in der Lage zu kommunizieren, ohne zeitliche, örtliche oder auch technische Barriere zwischen einander. Die Arbeit in digitalen Arbeitsgruppen und Projektteams, die sich jeweils lediglich für gewisse Zeit in Kollaboration befinden, verhindert eine homogene Belegschaft. Dies anzuerkennen und daraus den maximalen Vorteil zu ziehen, ist eine der wichtigsten Aufgaben für Führungskräfte. Dazu müssen sie – ausgehend von einer realistischen Selbsteinschätzung ihrer selbst – die Fähigkeit besitzen, die Andersartigkeit der Individuen und die daraus resultierenden Chancen klar zu erkennen. Empathie, aber auch eine große Kenntnis der Welt sind Eigenschaften, die die Führung im Zeitalter der Digitalisierung im zunehmenden Maße benötigt.

Fazit:
Antifragilität ist die Antwort

Wenn die Führung eines Unternehmens angesichts der Digitalisierung und den mit ihr einhergehenden Verwerfungen diese drei Fragen mit einem klaren “Ja” beantworten kann, ist sie gut vorbereitet. Sie wird Unsicherheiten umgehen und bewältigen und dabei die Mitarbeiter mitnehmen können. Mit einem Wort: Die Führung ist dabei, “Antifragilität” zu entwickeln. Dieser Begriff des Philosophen, Essayisten und Finanzmathematikers, Nassim Taleb, trägt dem Umstand Rechnung, dass Führungsaufträge in einer wenig vorhersehbaren Geschäftswelt kaum noch klar umrissen werden können. Dazu ist die Welt der Digitalisierung zu sehr von nichtlinearen Ursache-Wirkungsketten und von Komplexität geprägt. Antifragil zu handeln bedeutet in diesem Sinne, aus der neuen Unberechenbarkeit keine Not, sondern eine Tugend zu machen. Antifragilität bedeutet, an den Herausforderungen nicht nur nicht zu scheitern, sondern an diesen zu wachsen, ja sie sogar systemimmanent zum Wachstum zu benötigen. Der Begriff grenzt sich definitorisch von zwei Begriffen ab, die sein Gegenteil umreißen:

  • Fragilität: Dies sind Dinge und Systeme, die empfindlich auf Störungen reagieren, an diesen sogar zu Grunde gehen können. Fragilität haben wir beispielsweise am weltweiten Finanzsystem erlebt, das sich nur sehr mühevoll von der Finanzkrise des Jahres 2007 erholte.
  • Robustheit: Dies sind Dinge und Systeme, die nicht auf plötzliche Änderungen reagieren und von Störungen nicht negativ beeinflusst werden können. Robustheit in der freien Wirtschaft herzustellen, ist nunmehr fast ein Ding der Unmöglichkeit und gelingt ansatzweise am ehesten mittelständischen, inhabergeführten Unternehmen.

Antifragilität lässt sich dabei vergleichsweise gut messen und managen – und damit gut von der Führung eines Unternehmens ausbilden. Folgende Punkte müssen Führungskräfte dabei im Blick behalten:

  1. Wachsamkeit für Fragilität ausbilden: Starre oder überregulierte Systematiken beseitigen (etwa eine Budgetplanung in der Organisation, die auf dem Budget des Vorjahres basiert und die Abweichungen nach oben oder nach unten “bestraft”)
  2. Eine Interessengemeinschaft zwischen der Führung eines Unternehmens und seinen Mitarbeitern herstellen – und zwar hinunter bis zum “einfachen” Personal.
  3. Die Förderung von Freiräumen für die Mitarbeiter, um eigene Tüfteleien, Improvisationen, ja sogar “Spielereien” zuzulassen und diese nicht als “ineffizient” abzutun.

Exkurs:
“Antifragilität” (Nassim Taleb 2013)

Das Konzept “Antifragilität” wurde von Nassim Taleb 2013 in die Diskussion gebracht und soll Führungskräften Hinweise darauf geben, wie sie in der “VUKA-Welt” handeln können.

VUKA-Welt steht für:

V = Volatilität

U = Unsicherheit

K = Komplexität

A = Ambiguität

Wenn ein Unternehmen und seine Führung in der Digitalisierung Antifragilität entwickeln möchte, kann es sich dafür vier verschiedenen Faktoren widmen:

  1. Die Größe
  • Verkleinerung von Abteilungen
  • große Projekte in Teilprojekte zerlegen, große Pilotprojekte vermeiden
  • Risiken auf mehrere Projekte, Abteilungen, Prozesse, Teams o.ä. verteilen
  1. Die Dezentralisierung
  • Entscheidungsgewalt, so weit es geht, an Mitarbeiter abgeben
  • Probleme möglichst direkt von den Betroffenen, nicht vom Management, lösen lassen
  1. Fehlertoleranz
  • Konstruktiver Umgang mit Fehlern statt Fehlervermeidung
  • Mitarbeitende ermutigen, gewissen Risiken einzugehen und Fehler in Kauf zu nehmen
  • Konsequenzen der Fehler möglichst von den Verursachern = Mitarbeitenden selbst tragen lassen
  1. Redundanzen – Zeit
  • Phasen von Leerlauf und Rückzugsmöglichkeiten für Mitarbeiter zulassen
  • Zeit für kreative Lösungsfindung geben
  • Nach extremen Belastungsphasen für ruhige, gegebenenfalls redundante Phasen sorgen
  • Freiraum für Serendipität schaffen, um zufällig sich ergebende Lösungen zu ermöglichen

Neugierig geworden? Sie können Ingo Radermacher als Keynote Speaker buchen und seinen Vortrag über Digitalisierung für Ihre Veranstaltung gewinnen. Ingo Radermacher ist Vordenker und Querdenker: Seine Publikationen zum Thema “Digitale Transformation” umfassen die Titel “Digitalisierung selbst denken. Eine Anleitung, mit der die Transformation gelingt” (2017) und “Denk klar. Klug entscheiden in digitalen Zeiten” (2018). Hier finden Unternehmen und Organisationen aus Industrie und Wirtschaft Hinweise für eine individuelle Strategie und Kompetenzen, mit der die interessierte Führungskraft, das ambitionierte Management mit Verantwortung auf Veränderungen und grundlegenden Wandel reagieren kann.


Bild: Adobe Stock

Teilen Sie diesen Beitrag über